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Hochtouren in Zeiten des Klimawandels

Text: An­ne Zel­ler - Bil­der: An­schi + Jo­sef

19.08.2022

„An­ne, schlech­te Nach­rich­ten!“, ruft mir An­schi ent­ge­gen, als ich ge­ra­de mei­nen Hüt­ten­schlaf­sack im Zim­mer­la­ger aus­brei­te. Sie hat mit dem Hüt­ten­wirt der Ses­ven­nahüt­te ge­spro­chen und er rät drin­gend von ei­ner Be­stei­gung des Piz Ses­ven­na, un­se­res mor­gi­gen Ziels, ab.

Es ist das ers­te Au­gust­wo­chen­en­de – vor ei­nem Mo­nat ist der Mar­mo­la­da-Glet­scher nach ei­nem schwe­ren Glet­scher­ab­bruch ge­sperrt wor­den. In den Nach­rich­ten ha­ben wir vor we­ni­gen Ta­gen ge­le­sen, dass die­sen Som­mer kein Berg­füh­rer mehr das Mat­ter­horn führt und die Nor­mal­rou­te am Mont Blanc sei auch le­bens­mü­de… Schlech­te Zei­ten für Hoch­tou­ren in den Al­pen im Som­mer 2022 – aber kei­ne schlech­ten Zei­ten für Berg­tou­ren!

So ma­chen auch wir das Bes­te aus der Si­tua­ti­on: Nach dem Aben­des­sen wird um­ge­plant – mit An­lauf­schwie­rig­kei­ten, denn mei­ne Kar­te deckt ge­ra­de noch so den Piz Ses­ven­na ab, nicht mehr die ge­plan­te Al­ter­na­tiv­tour. Und in der Hüt­te kann mir nie­mand ei­ne an­de­re Kar­te lei­hen. Bleibt nur die auf Rie­sen­for­mat auf­ge­kleb­te Hüt­ten­kar­te, die wir uns im­mer­hin ab­fo­to­gra­fie­ren. Schlech­te Lau­ne? Zum Glück nicht! Al­le Teil­neh­mer ver­ste­hen mei­ne Ent­schei­dung nicht zum Ses­ven­na zu ge­hen. „Das ist eben Out­door­sport!“, fasst Jo­sef zu­sam­men.

Am Sams­tag geht’s dann statt Hoch­tour auf den Piz Ses­ven­na auf ei­ne Vier-Gip­fel-Drei-Drei­tau­sen­der-Tour über Schad­ler(2.948 m), Piz Rims (3.067 m), Piz Chri­sta­nas (3.091 m) und Piz d’Im­mez (3.031 m). Gleich bei der ers­ten Pau­se am Piz Rims fängt es zu reg­nen an. Re­gel­mä­ßi­ge Schau­er wer­den uns den gan­zen Tag be­glei­ten – aber da­für ist der Ruck­sack leicht, oh­ne Seil, Pi­ckel und Steig­ei­sen! J und oh­ne Wol­ken wä­ren die Fo­tos auch nicht so stim­mungs­voll… Wir ma­chen al­so tat­säch­lich das Bes­te draus und kom­men gut ge­launt (und wie­der tro­cken) recht­zei­tig zu Kaf­fee & Ku­chen auf der schö­nen Ses­ven­nahüt­te an. Nach der Pau­se und dem ein oder and­ren Ni­cker­chen be­schlie­ßen wir spon­tan ei­ne Tro­cken­übung in Spal­ten­ber­gung vor der Hüt­te zu ma­chen – da­mit wir das gan­ze Ma­te­ri­al doch nicht um­sonst hoch­ge­schleppt ha­ben. Das „Selbst-Hoch-Pru­si­ken“ aus der fik­ti­ven Spal­te un­ter der Kin­der­schau­kel bringt die Mus­keln noch­mal auf Tour – auch die Lach­mus­keln!

Am Sonn­tag schenkt uns der Wet­ter­gott dann zum Start et­was Son­ne und traum­haf­te Aus­bli­cke auf dem Weg zur Ra­sass­s­pit­ze (2.883 m). Das war’s dann aber auch, denn ab Mit­tag zieht’s zu und ru­mort et­was am Him­mel. Wir ha­ben uns ei­ne klei­ne Über­schrei­tung von der Ra­sass­s­pit­ze zum Ver­nung­kopf (2.870 m) als al­ter­na­ti­ven Ab­stieg nach Schli­nig aus­ge­sucht. Laut Hüt­ten­wirt gut mach­bar, laut Hüt­ten­kar­te so­gar mar­kiert. Laut mei­ner di­gi­ta­len Kar­te nicht – und die hat lei­der recht, denn ir­gend­wo beim Ab­zwei­ger vom Grat sind wir zwar laut GPS di­rekt auf dem Weg, den sieht man aber nir­gends. Al­so gibt es un­ge­plant ein klei­nes weg­lo­ses Aben­teu­er in stei­len Gras­ter­ras­sen, dass mit plötz­lich ein­set­zen­dem Re­gen und Grau­pel für mei­ne Be­grif­fe et­was zu aben­teu­er­lich wird – aber da sind wir zum Glück auch schon wie­der auf dem an­ge­peil­ten Hö­hen­weg Rich­tung Schli­nig. Al­les gut ge­gan­gen, Wolf­gang kann da­bei so­gar noch sei­nen Pi­ckel ein­set­zen. Beim Ab­schluss­kaf­fee im Ho­tel Edel­weiß ge­gen­über un­se­res Park­plat­zes sind wir uns ei­nig: Es war auch oh­ne die ge­plan­te Hoch­tour ein schö­nes Berg­wo­chen­en­de in Süd­ti­rol – aber lei­der wird das Hoch­tou­ren­ge­hen in Zei­ten des Kli­ma­wan­dels im­mer öf­ter fle­xi­ble Rou­ten und Zie­le er­for­dern…